Wegen WM doch Deutschland

Ich beschäftige mich nicht mehr mit Fussball, seit Hertha BSC mit mir als Balljungen in der zweiten Liga ausgerechnet gegen den VfL Oldenburg verloren hat. Das ist lange her, sehr lange, aber wie lange genau, das weiss ich nicht mehr. Wie hoch Hertha verloren hat, habe ich gleich mit verdrängt. Ich erinnere mich nur noch daran, dass es in den Eingeweiden des Olympiastadions, ganz nahe an den Spielerumkleiden, für uns Balljungen Zitronentee gab, so viel wir wollten, was auch nötig war zum Aufwärmen. Und eine lauwarme Bockwurst mit einem diagonal geschnittenen Stück Toast, das pappig schmeckte.

Ich beschäftige mich manchmal doch mit Fussball. Mit meinem lieben Freund Jochen gucke ich zum Beispiel die Bundesliga-Konferenz, wenn ich bei ihm zu Besuch bin. Genauso gut kann ich ihm auch zuschauen, wenn er auf der Playstation FIFA 2000 spielt, da sind die Kameraperspektiven irgendwie actionreicher als bei Premiere, und mit Action macht Fussball Spass. Was macht es da, wenn es dabei nicht um Stars aus Fleisch und Blut geht? Ich gucke Fussball also nur aus sozialen Gründen – aber bei jeder WM werden diese Gründe jeweils so zahlreich, dass man um sie kaum herumkommt.

Im Jahr 2002 war ich allerdings von so wenigen Fussballfreunden umgeben, dass es schien, ich würde sogar das Endspiel verpassen. Wer sollte auch wissen, dass am See in Neuenburg, wo die Schweiz einen ihrer vier Standorte für die Landesausstellung Expo.02 hat aufbauen lassen, die Besucher nicht nur kulturelle und technische Errungenschaften bewundern und ihr Selbstbewusstsein als modernes, innovatives, selbstbewusstes Land pflegen, sondern dass sie hier eine gigantische Leinwand aufbauen.

Und während meine Begleitung durchaus auch dem Endspiel widerstanden hätte – ich konnte das nicht. Schliesslich war Deutschland dabei, allen Unkenrufen zum Trotz, die den Zustand der Mannschaft in den schwärzesten Tönen malten. Ich wunderte mich: Netzer, dem ich zum Thema Fussball zuhöre, weil er wenigstens eloquent ist, hat die Mannschaft für chancenlos gehalten – und jetzt war sie hier, im Endspiel? Das konnte dann selbst ich mir nicht entgehen lassen. Und ein bisschen stolz war ich auch.

Aber worauf eigentlich? Kann man auf etwas stolz sein, wofür man nichts, rein gar nichts geleistet hat? Mein Kopf sagt: Nein. Mein Bauch meist auch, aber in diesem Moment eben nicht.

Hätte ich diesen Moment in Berlin auf der Strasse erlebt, hätten sich meinem Bauch noch jede Menge andere Eindrücke aufgedrängt. Und schnell hätte vermutlich bierseliges Deutschland-Gegröle in meinen Ohren einen solchen Horror hinterlassen, dass ich über diesen winzigen Anflug von so etwas wie Patriotismus schnell hinweggeschaut hätte. Ich war aber nicht in Berlin.

Ich war in der Schweiz, wo die Schweizer deutscher, französischer und italienischer Sprache nicht für Deutschland waren. Zum einen womöglich, weil sie wie die Holländer beim Fussball grundsätzlich nie für Deutschland sind. Zum anderen natürlich, weil das Angebot, in diesem Endspiel (wie auch sonst immer beim Fussball) für Brasilien zu sein, wie üblich deutlich mehr Sex-Appeal hatte.

Ich aber fieberte für Deutschland. Und fühlte mich einsam unter all denen, die hier vor Begeisterung tobten, unter all den frisch eingebürgerten Brasilianern Schweizer Herkunft, all den echten Südländern und den vielleicht sogar beteiligten wirklichen Brasilianern. Im Rückraum der Zuschauerfläche, nahe an der Bar, wo’s Bier gab und andere Dinge, an denen man sich in der Not festhalten kann, fand ich ein paar Deutsche – Landsleute! – die sich wie ich ganz vorsichtig freuten, als in Yokohama unser Team in der ersten Halbzeit die Brasilianer in die Defensive drängte. Die verhalten zischend Luft einsogen, als Neuville seinen Freistoss nur an den Aussenpfosten setzte. Und so wusste ich, lange bevor Ronaldo zum zweiten Mal vollstreckte: Wie das Spiel da drüben in Japan auch ausgehen würde, ich hatte verloren.

Wie gerne wäre ich Brasilianer gewesen – wie all die anderen, die keine sind, es aber an dem Tag im Freudentaumel wurden. Die nachher überall leidenschaftlich feiern, auch und natürlich an der Zürcher Langstrasse, wie das Foto zeigt. Aber ich war, als die Schweiz Brasilien wurde, Deutschland.

PS: Dieses Mal werde ich darum von Anfang an Deutschland sein. Mein Versuch, Schweiz zu sein, der sonst im Alltag so gut klappt, hat im Stadion ja bereits versagt, wie mein Selbstversuch hier gezeigt hat. Ich werde Deutschland sein, solange diese WM geht. Auch wenn dieses Jahr der WM-Spielplan vermuten lässt, dass Deutschland weit vor dem Final aus dem Spiel gefegt werden wird – bis zum Ende der WM sage ich: i.ch-b.in/deutschland (Aber eben auch nur so lange, und keinen Tag länger.)

PPS: Über Fussball werde ich allerdings auch während der WM nicht selber schreiben. Wer das an meiner Stelle übernimmt, das verrate ich ab nächster Woche.

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